Fragen der Wohlfahrt und Sozialpolitik spielen in der Wahrnehmung der deutsch-jüdischen Geschichte kaum eine Rolle. Einen bemerkenswerten Text in dieser Hinsicht veröffentlichte der Arzt und Sozialbeamte Paul Frank im Jahr 1924. Der Artikel Juden in der sozialen Hilfsarbeit1 führte den Leser:innen eine Reihe von Persönlichkeiten vor Augen, die in der allgemeinen Wohlfahrt wirkten, und – hier passt kein noch so erwartetes ›aber‹ – einen jüdischen Hintergrund hatten.
Es ist ein typischer Zeitungsartikel, ein eher kurzer Text, der weder auf Ausführlichkeit noch auf Vollständigkeit hinauswollen konnte. Frank skizziert darin einen Personenkreis, der sich nicht nur durch soziales Engagement an sich auszeichnet, sondern auch durch die Beteiligung an der Entwicklung neuer, innovativer Formen sozialer Arbeit und Hilfe. Dass man sich persönlich kannte und austauschte, ist ein sehr interessanter Aspekt dabei, und wird der Arbeit seinerzeit erheblich zugute gekommen sein.
Auch wenn einige der von ihm besprochenen Personen »bekenntnismäßig« nicht mehr dem Judentum angehörten, so seine These, wurzelte ihr auf die allgemeine Wohlfahrt zielendes soziales Engagement immer noch (auch) in der jüdischen Ethik. Er weist in diesem Zusammenhang auf das Konzept der Zedakah in der jüdischen Tradition hin, welches Wohltätigkeit und Gerechtigkeit umfasst und damit sowohl das moralische Recht auf als auch die Pflicht zur Unterstützung begründet.
Seinem Text wird nicht nur ein ausschließlich fachliches, sondern auch ein gesellschaftspolitisches Interesse zugrunde gelegen haben. Mit der Darstellung des selbstverständlichen Beitrags jüdischer Persönlichkeiten zur allgemeinen Wohlfahrt und der sozialethischen Fundierung der jüdischen Tradition lieferte er auch eine Argumentation gegen antijüdische Narrative, die insbesondere in den Krisenphasen der 1920er Jahre immer wieder aufkamen. Nicht von ungefähr erschien sein Text in der CV-Zeitung. Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) stand für die Gleichberechtigung der deutschen Juden und für den Kampf gegen den Antisemitismus.
Dr. Paul Frank (geb. 24. März 1867 in Staßfurth, gest. 21. Januar 1936 in Berlin) entstammte einer jüdischen Familie in Sachsen-Anhalt. Nach Studium der Medizin und Tätigkeit als Schiffs- und Krankenhausarzt war er Mitbegründer und leitender Arzt der Unfallstationen des Roten Kreuzes in Berlin (1893). 1913 übernahm er die Leitung des gesamten Berliner Rettungs- und Krankentransportwesens und baute als Direktor des Rettungsamtes Berlin (1920) diesen Bereich substanziell aus. Schließlich engagierte er sich noch grundsätzlicher in dessen Organisation, war 1929 bis 1932 stellvertretender Staatskommissar für das Rettungswesen Preußens. 1930 trat er in den Ruhestand.2 Zu seinem Arbeitsfeld hat er etliche Beiträge veröffentlicht.
Durch diese jahrzehntelange, intensive Tätigkeit war Frank ein hervorragender Kenner des kommunalen Gesundheitswesens und überhaupt der öffentlichen Wohlfahrt. Aber auch in der jüdischen Wohlfahrt war er engagiert und orientiert. So begegnet er uns als Mitherausgeber der ersten Ausgabe der Zeitschrift Zedakah der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, und auch als Autor von Artikeln zur jüdischen Sozialarbeit. Einen besonderen Akzent setzte er mit seinem Film zur jüdischen Wohlfahrt Ein Freitag Abend, der aus Anlass der Gesolei 1926 entstand.3 Bemerkenswerterweise wurde dieser Film in den folgenden Jahren dutzende Male an Orten in ganz Deutschland aufgeführt, in den öffentlichen Kinos, immer vor auch nichtjüdischem Publikum.
Die Sozialwissenschaftlerin und Sozialarbeiterin Hilde Ottenheimer hat später, in der NS-Zeit, aus ähnlicher Motivation, einen wesentlich umfangreicheren Beitrag zu diesem Themenkreis verfasst – und dort auch den Nestor des preußischen Rettungswesens genannt.4 Denn natürlich gehört auch Paul Frank selbst zu diesem Kreis von Pionier:innen im Feld des Sozialwesens.
Juden in der ſozialen Hilfsarbeit.
Von Paul Frank (Charlottenburg).
Wie die katholiſche Wohlfahrtspflege unter dem Gedanken der „Caritas“ (Gottes- und Nächſtenliebe) ſteht und die evangeliſche Liebestätigkeit durch den Begriff „Diakonie“ (Dienſt an Gott und den Mitmenſchen) beſtimmt wird, ſo wird die jüdiſche ſoziale Hilfsarbeit in Urſache, Inhalt und Ziel durch ein Wort „Zedakah“ gekennzeichnet. Dieſes Wort umfaßt aber bezeichnenderweiſe gleichzeitig zwei Begriffe: Wohltätigkeit und Gerechtigkeit. Wohlfahrtspflege bedeutet ſomit nach jüdiſcher Auffaſſung lediglich Ausübung ſelbſtverſtändlicher, ausgleichender Gerechtigkeit. Aber auch nicht nur eine dem Geſetz gehorchende Gerechtigkeit formaler Art, ſondern Gerechtigkeit, die dort Recht ſchafft, wo Menſchenrecht und Menſchenwürde verletzt wird, die dem Bedürftigen ein moraliſches Anrecht auf Hilfe gibt, ohne dem gebenden Teil einen Anſpruch auf Dank und Anerkennung zu gewähren. Es ergibt ſich ſomit von ſelbſt, daß die deutſchen Juden zu allen Zeiten an der Ausgeſtaltung nicht nur der konfeſſionellen, ſondern – und vielleicht in noch viel ſtärkerem Maße – auch der interkonfefſionellen Wohlfahrtspflege beteiligt waren.
Ueber den materiellen Umfang ſowie über Bedeutung und Wert dieſer Leiſtungen zu ſprechen, widerſtrebt der erwähnten jüdiſchen Auffaſſung über Sinn und Inhalt der Wohlfahrtspflege. Wohl aber dürfte eine Unterſuchung gerechtfertigt ſein, welcher Anteil jüdiſchen Mitbürgern an der Neu- und Aussgeſtaltung der ſozialen Hilfsarbeit inſofern in Deutſchland zufällt, als gänzlich neue Formen und Methoden der Wohlfahrtspflege reformierend zur Verwirklichung gebracht wurden. Eine derartige Unterſuchung erſcheint um so gerechtfertigter, als die Kraft dieſer Frauen und Männer, die ſo bahnbrechend auf dem Gebiete der ſozialen Fürſorge wirkten, letzten Endes in erſter Reihe dem tiefen Borne jüdiſcher Ethik entſtrömt ſein dürfte, wenngleich einige von ihnen nicht mehr bekenntnismäßig dem Judentum angehörten.
Dieſer Ausbau der ſozialen Hilfsarbeit vollzog ſich mit der zunehmenden Induſtrialiſierung, dem damit verbundenen Großſtadtweſen und dem Anwachſen der Frauenarbeit vornehmlich in den letzten dreißig Jahren. Aus früheren Zeiten ſei nur an Lina Morgenstern erinnert, die ſchon im Sturmjahr 1848 an ihrem 18. Geburtstage den Breslauer „Pfennigverein zur Unterſtützung armer Schulkinder“ begründete, deren Name aber vornehmlich in der Geſchichte des Volksernährungswseſens weiterleben wird, da ſie bei Kriegsausbruch 1866 die erſte öffentliche gemeinnützige Speiſeanſtalt ſchuf. Ihr Ziel war, Frauen bürgerlicher Stände herauszuführen „aus der Hauswirtſchaft in die ausübende Volkswirtſchaft, aus der Familienpflege in die Pflege des arbeitenden Volkes, aus der Sorge für Geſundheit und Wohlergehen der Angehörigen zu der Sorge für die öffentliche Geſundheitspflege“. Aus dieſer erſten Notſtandsküche, deren Grundidee die Herſtellung von Speiſen im Großen war und deren Abgabe nicht umſonſt, ſondern zum Selbſtkoſtenpreis erfolgte, um das Ehrgefühl der Bedürftigen zu ſchonen, entſtanden gar bald als bleibende Einrichtung Volksküchen im ganzen Reiche. Aus ihrer Arbeit auf dieſem Gebiete entwickelte ſich folgerichtig die weitere Tätigkeit Lina Morgenſterns zur Schulung der Frauen auf hauswirtſchaftlichem Gebiete und es entſtanden die erſten Kinderſchutz-, Dienſtboten- und Arbeiterbildungsvereine, wenngleich die von ihr ausgeſtreuten Keime zum Teil erſt ſpäter aufgingen.
Schon in den 60er Jahren trat Henriette Goldſchmidt für die heute ſo ſelbſtverſtändliche, damals jedoch geradezu revolutionär erſcheinende Beteiligung der Frauen an der öffentlichen Wohlfahrtspflege ein. Der Pionierarbeit dieſer Frau für eine weiblicher Eigenart entſprechende, zugleich dem allgemeinen Volkswohl zugute kommende Erziehung ist in Geſtalt der Leipziger Frauenhochſchule, deren Lehrplan in erſter Reihe der ſozialpädagogiſchen und ſozialhygieniſchen Ausbildung dient, und deren Entſtehen lediglich auf ihre Initiative zurückzuführen iſt, ein ganz beſonders würdiges und bleibendes Denkmal geſetzt.
In den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts bildete ſich in Berlin ein Kreis von Frauen und Männern, in ihren Ideen ſich derart gegenſeitig befruchtend und fördernd, daß die Tätigkeit des einen Gliedes dieſer auch in perſönlicher Freundſchaft verbundenen Gemeinſchaft ohne die des andern kaum denkbar erſcheint. Es war der Kreis um Stadtrat Dr. Emil Münſterberg, Jeanette Schwerin, Dr. Albert Levy, Dr. Alice Salomon, Joſephine Levy-Rathenau, Dr. Hugo Neumann, Geh. Juſtizrat Dr. Paul Koehne, Miniſterialrat Dr. E. Friedeberg, die – außer Alice Salomon – leider ſämtlich allzufrüh ihrer ganzen Generationen Richtung und Lebensinhalt gebenden Wirkſamkeit entriffen wurden.
Münſterberg, ein Bruder des bekannten Austauſchprofeſſors in Amerika, ſchuf als Stadtrat von Berlin in ſeiner Anweisung für die öffentliche Armenpflege ein Muſterbeiſpiel für die Möglichkeit einer nach individuellen und organiſatoriſchen Geſichtspunkten durchgeführten, aufbauenden Armenpflege. Sein Buch „Die Armenpflege“ und ſeine vielfachen Veröffentlichungen können auch heute noch als klassische Werke auf dieſem Gebiete bezeichnet werden. Seine wohlfahrtsreformeriſche Tätigkeit drückte der ganzen deutſchen Armenpflege den Stempel ſeiner ſtarken, vornehmen Perſönlichkeit auf. Tatkräftig ſetzte er ſich für die Schulung der Frauen zur ehrenamtlichen und beruflichen Tätigkeit in der sozialen Hilfsarbeit und für die enge Verbindung der öffentlichen mit der privaten Fürſorge ein.
Jeanette Schwerin und Dr. Albert Levy, dem Kreiſe der „Deutſchen Geſellſchaft für ethiſche Kultur“ entſtammend, hielten zwar die Religion ihrer Väter hoch, verfolgten jedoch ihre Beſtrebungen lediglich auf ſozial-ethiſcher Grundlage als Bindeglied zur Ueberbrüdung konfeſſioneller und politiſcher Gegenſätze, Gegenſätze, die gerade in der Wohlfahrtspflege von keiner besonderen Bedeutung ſein ſollten. Dieſe Ueberbrückung geſchah auch erfolgreich in der von ihnen begründeten „Zentrale für private Fürſorge“, was äußerlich z. B. dadurch ganz beſonders gekennzeichnet wurde, daß ſich zum 25jährigen Beſtehen der Zentrale für private Fürſorge Vertreter aller Religionen und Weltanſchauungen in einer Feſtſchrift als Ehrengabe für Dr. Albert Levy vereinten, deſſen allzu früher Heimgang von den berufenen Vertretern aller Konfeſſionen als ein ſchwerer Verluſt für die geſamte deutſche Wohlfahrtspflege beklagt wurde. Jeanette Schwerin und Albert Levy verwarfen die bisher übliche Form des bloßen Almoſengebens in Geſtalt einmaliger Unterſtützungen, ſondern führten das Syſtem der Pflegſchaft und der Familienfürſorge ein, welches heute ja eine ſelbſtverſtändliche Forderung der Wohlfahrtspflege iſt, eine den individuellen Verhältniſſen des Einzelfalles angepaßte, vorbeugende und nachgehende, umfaſſende Fürſorge materieller und geiſtiger Art. Die ebenfalls heute ſelbſtverſtändliche Zuſammenfaſſung aller Träger der Wohlfahrtspflege und deren gemeinſames, ſich gegenſeitig ergänzendes Wirken in Geſtalt von Wohlfahrtsämtern u. dgl. wurde durch die Z.f.p.F., wenn auch in anderer Organiſationsform, zum erſtenmal verwirklicht. Albert Levys ſtrenge Auffaſſung von der hohen ethiſchen Bedeutung der Wohlfahrtspflege bedingte die von ihm zuerſt aufgeſtellte Forderung nach einer beruflichen ſozialſachlichen Ausbildung und ließ ihn alle Methoden und Wege der Geldmittelbeſchaffung, ſowie jede dilettantiſche Fürſorgearbeit bekämpfen und verwerfen, die nicht höchſten ſittlichen Anforderungen ſtandhielt. (Blumentage, Wohltätigkeitsfeſte.) Alice Salomon iſt noch heute die Führerin eines Geſchlechts, welches über die von Münſterberg, Jeanette Schwerin, Lina Morgenſtern u. a. begründeten „Mädchen- und Frauen-Gruppen für ſoziale Hilfsarbeit“ hinausgehend nicht nur den Frauen den Weg zu einer beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeit in der Wohlfahrtspflege zuerſt durch kurze Kurſe, ſpäter durch die von ihr zuerſt geſchaffene Einrichtung der Sozialen Frauenſchule ermöglichte, ſondern auch der Wohlfahrtspflege ſelbſt die Kräfte zuführte, ohne die der heutige Stand der ſozialen Fürſorge überhaupt nicht denkbar wäre. Wie groß die Aufgabe damals war und welche Widerſtände zu überwinden waren, geht vielleicht am beſten aus einer Bemerkung des damaligen Gründungsaufrufs der Gruppe hervor, in welchem ausdrücklich betont werden mußte, daß es sich um „keinerlei Emanzipationsbeſtrebungen“, ſondern lediglich darum handele, „junge Mädchen und Frauen zu ernſter Pflichterfüllung im Dienſte der Geſamtheit“ zu erziehen.
Dem gleichen Kreiſe entſtammte auch Josephine Levy-Rathenau. Aus einer gelegentlichen Beratung über Berufsausbildung und Berufsmöglichkeiten für Frauen entſtand nach langen systematiſchen Vorarbeiten die Auskunftsſtelle für Frauenberufe, erſt örtlich auf Berlin begrenzt, dann, nachdem nach Berliner Muſter ähnliche Stellen auch in anderen Städten begründet waren, in einem Kartell für ganz Deutſchland zuſammengefaßt. Die von ihr eingeführte Berufsberatung der Berliner Schülerinnen wurde ſpäter als ein vollendetes, abgeſchloſſenes Werk von der Stadt übernommen, gleichzeitig als Form und Muſter für die damals erſt zu ſchaffende männliche Berufsberatung dienend. Wieviel Frauen und Mädchen haben durch die methodiſche Forſchungs- und Beratungsarbeit des Frauenberufsamtes und ſomit durch Frau Levy-Rathenau über die Eignung der Frauen zu den einzelnen Berufen und durch die damit verbundene Erſchließung neuer geeigneter Frauenberufe, erſt das Arbeitsfeld gefunden, das ihren perſönlichen Neigungen, Fähigkeiten und Kräften angemeſſen war und blieben ſomit vor verfehlter und unbefriedigender Berufsarbeit bewahrt.
Das hervorragende Organiſationstalent Frau Levy-Rathenaus ließ unter ihrer weſentlichen Führung bei Kriegsausbruch mit einer beinahe zauberhaften Schnelligkeit die Zuſammenfaſſung der Berliner weiblichen Kriegsfürſorge in Geſtalt des „Nationalen Frauendienstes“ entſtehen und zum erſtenmal ein auch wirklich praktiſch ſich auswirkendes Solidaritätsgefühl der Frauen zur Tat werden. Leider ſollte ſie die Früchte ihres Wirkens als Stadträtin, wo ihr die Schaffung des zu begründenden Wohlfahrtsamtes übertragen war, nicht mehr erleben.
Der Kinderarzt Profeſſor Dr. Hugo Neumann verwirklichte in feinem noch heute muſtergültigen „Kinderhaus“ schon vor faſt 30 Jahren als private Wohlfahrtseinrichtung all die Aufgaben, die der heutigen Jugendfürſorge zufallen. Sein Kinderhaus war in ſeiner praktiſchen Auswirkung Muſter und Vorbild für das heutige Jugendamt. Von der Geburt bis zur Schulentlaſſung eine nachgehende geſundheitlich-erziehliche Fürſorge für die Jugend! Die erste Schwangerenberatungsſtelle, die erſte Säuglingsfürſorgeſtelle war ſein Werk, welches als Vorbild für alle dieſe und ähnliche Beſtrebungen diente.
Auf dem weiteren Gebiete der Jugendfürſorge und -pflege ſind ferner Geheimer Juſtizrat Koehne und Miniſterialrat Dr. E. Friedeberg zu nennen. In der Organiſation der „Deutſchen Zentrale für Jugendfürſorge“ faßten ſie das Geſamtgebiet der Jugendfürſorge zuſammen, deren einzelne Gebiete wiſſenſchaftlich und praktiſch erforſchend und ſomit auf die Ausgeftaltung der ganzen Jugendwohlfahrt wirkend. Koehne war der Bahnbrecher für die deutſchen Jugendgerichte, er und Friedeberg mit die Wegbereiter für die heutige Jugendwohlfahrtskunde; das Jugendwohlfahrts- und Jugendgerichtsgeſetz erfuhr durch Friedeberg ſeine weſentlichſte Ausgeſtaltung und Vertiefung.
Von den vielen weiteren Pionieren auf dem Gebiete der fozialen Fürſorge wäre noch Stadtrat Roſenſtock (Königsberg) zu nennen, der neue Wege auf dem Gebiete des Unehelichenſchutzes ging, und Bertha Pappenheim als eine international anerkannte Führerin auf dem ſo ſchwierigen und traurigen Gebiete der Bekämpfung der Proſtitution und des Mädchenhandels. Dr. h. c. Helene Simon, deren Wirkſamkeit es gelungen war, zum erſten Male auch die geſetzliche Fürforge nach modernen, ſozialen Geſichtspunkten zu orientieren, iſt es in erſter Reihe zu verdanken, wenn die Gefetzgebung den Kriegsbeſchädigten und Hinterbliebenen nicht nur eine ſtarre geldliche Beihilfe, ſondern auch eine weitere ſoziale Fürſorge (Erziehung, Berufsumſchulung und ärztliche Verſorgung) zukommen läßt.
Die vorſtehende Skizze über den Anteil der Juden an der Ausgeſtaltung der ſozialen Hilfsarbeit in Deutſchland könnte natürlich noch in vieler Hinſicht vertieft und erweitert werden. Es kam jedoch nur darauf an, andeutungsweiſe zu zeigen, daß die altjüdiſche Auffaſſung vom Weſen wahrer Wohlfahrtspflege dem modernen Zeitſtreben der letzten Jahrzehnte entſprach, welches die alten Wege und Formen des Almoſengebens verwarf und dem Hilfsbedürftigen in immer größerem Umfange ein moraliſches „Recht“ auf Hilfe gab. Die heutige Zeit aber mit ihren ungeheuren Notſtänden materieller und geiſtiger Art, der Not des Alters und der Jugend, aller Stände und Berufe, in der von einer ſelbſtverſchuldeten Not kaum jemals die Rede fein kann, läßt uns ganz beſonders klar erfennen, daß wahre Wohlfahrt nur im Sinne der Zedakah geſchehen kann, als ein durch Menſchenliebe und Gerechtigkeitsſtreben bedingter Ausgleich ſozialer Unvollkommenheiten und Härten.
Redaktioneller Hinweis: Der Text von Paul Frank erscheint in der Reihe »Minimal Editions (MEJWS)«.
- Juden in der sozialen Hilfsarbeit. Von Paul Frank (Charlottenburg). In: Central-Verein-Zeitung 3 (1924), 14 (3.4.1924), S. 162-163 https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2280254 . [↩]
- Käte Frankenthal: Der dreifache Fluch: Jüdin, Intellektuelle, Sozialistin. Lebenserinnerungen einer Ärztin in Deutschland und im Exil, hrsg. von Kathleen M. Pearle und Stephan Leibfried, Frankfurt/New York 1981, S. 284. [↩]
- Vgl. Paul Frank: Unser Wohlfahrtsfilm. Eine grundsätzliche Betrachtung über Wohlfahrtspropaganda. In: Zedakah – Zeitschrift der jüdischen Wohlfahrtspflege (1926), 2, S. 23. Der Film Ein Freitag Abend führte die Vielfalt an Einrichtungen und Maßnahmen jüdischer sozialer Arbeit vor Augen, ihre moderne Ausrichtung und die möglichst ›flächendeckende‹ Versorgung. Der Film ist wohl verschollen, Inhalt und Kontext lassen sich aber ein Stück weit rekonstruieren. Vgl. Lordick, Harald: Filmreif – Jüdische soziale Einrichtungen auf der GeSoLei 1926 (Vortrag 2023, Veröffentlichung in Vorbereitung). [↩]
- Vgl. Hilde Ottenheimer: Pädagogik und Sozialpädagogik – Soziale Arbeit – Gemeinnützige Stiftungen, In: Juden im deutschen Kulturbereich: Ein Sammelwerk. Hrsg. von Siegmund Kaznelson. Mit einem Geleitwort von Richard Willstätter. 2., stark erweiterte Ausgabe Berlin: Jüdischer Verlag 1959. [↩]
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Harald Lordick (1. Februar 2025). »Juden in der sozialen Hilfsarbeit« – Von Paul Frank (1924). Deutsch-jüdische Geschichte digital. Abgerufen am 17. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/1382e